Weinreben am Bodensee

Die Müller-Thurgau Story

27 October 2017
von Rainer Schäfer, Journalist
Als seine Vorgesetzten ihn erneut abblitzen lassen, reift sein Entschluss: Er würde dieser Rebsorte zuliebe unter die Schmuggler gehen und den Müller-Thurgau heimlich anbauen.

Schmugglerfahrt über den See

Es ist eine Nacht im April 1925, in der das Gesetz gebrochen werden soll. Die Schmuggelfahrt ist bis ins kleinste Detail geplant. Sie verläuft vom deutschen Ufer des Bodensees zur gegenüberliegenden Seite, nach Ermatingen in der Schweiz. Eingeweiht sind nur vier Männer, und die haben ein reines Gewissen. Heimlich sollen Reben aus der Schweiz geschmuggelt werden, um dem Weinbau am deutschen Seeufer auf die Beine zu helfen.

Zwei der Männer, Albert Röhrenbach und Gottfried Ainser, legen mit einem sechs Meter langen Ruderboot ab, «Gondele» sagen die Bodensee-Fischer dazu. Zwei Uhr nachts, die Schmuggler versuchen jedes Geräusch zu vermeiden. Albert Röhrenbach ist 22 Jahre alt, Gottfried Ainser drei Jahre älter. Ihre Väter sind die beiden Mitwisser, Johann Baptist Röhrenbach aus Immenstaad und Josef Ainser, ein Fischer aus Hagnau, dem das Boot gehört. Sie warten zu Hause auf ihre Söhne, die gleich zweimal die Zoll- und Landesgrenze hinter Konstanz passieren müssen. «Die sassen auf heissen Kohlen, an Schlaf war nicht zu denken», erzählt Wilhelm Röhrenbach aus Immenstaad. Oft hat man in seiner Familie darüber gesprochen, wie sein Vater das Boot gerudert und sein Grossvater den Plan für die Schmuggeltour ausgeheckt hat. Der ist damals Verwalter auf dem Schlossgut Kirchberg, das zum Rentamt Salem und zu den Besitztümern des Grafen von Baden gehört. Johann Baptist Röhrenbach will unbedingt Müller-Thurgau anpflanzen, weil die Rebe am See optimale Bedingungen vorfinde. Aber seine Vorgesetzten wollen nichts davon wissen, sie verweigern Röhrenbach die Genehmigung.

Von Hagnau rudern Albert Röhrenbach und Gottfried Ainser am Ufer entlang, kurz vor Meersburg ändern sie ihre Richtung und steuern auf den See hinaus. Sie haben Sturmlaternen dabei, trauen sich aber nicht sie anzuzünden. Sie müssen unentdeckt bleiben, sonst drohen ihnen harte Strafen. Ainser, der als Fischer den oberen Bereich des Bodensees kennt, muss sich auf sein Gefühl verlassen, denn in den Untersee verirrt er sich nur selten. Auf dem Boden des Bootes liegen Netze, zur Tarnung. Als Verpflegung haben die beiden einen Laib Brot und eine Korbflasche mit verdünntem Most mit an Bord, ausserdem eine Kette Schüblinge, wie die regionalen Knackwürste heissen. Ans Essen aber denkt keiner der beiden, wenn sie sich ins Zeug legen und sich jetzt nicht aufhalten lassen, können sie ihr Ziel in dreieinhalb Stunden erreichen.

 

Die Hoffnungsrebe

Es ist schlecht bestellt um den Weinbau am See in den 1920er Jahren. Missernten machen den Winzern zu schaffen, angebaut wird vor allem Elbling, ein saurer Wein mit wenigen Vorzügen. Er hat dem Seewein einen denkbar schlechten Ruf eingebracht. «Um den zu trinken, braucht man vier Leute», scherzen die Einheimischen. «Zwei, die den Trinker festhalten, einen Dritten, der ihm den Wein einflösst.»

Johann Baptist Röhrenbach ist überzeugt, dass der früh reifende Müller-Thurgau die Not der Bodensee-Winzer lindern und den maroden Weinbau kurieren könnte. Gezüchtet wurde die Hoffnungsrebe 1882 von Professor Hermann Müller, einem Schweizer, der aus Tägerwilen im Kanton Thurgau stammt. Als Müller in Geisenheim am Institut für Pflanzenphysiologie arbeitet versucht er mit einer Neuzüchtung die Vorzüge des Rieslings und des Silvaners zu verbinden. Inzwischen weiss man allerdings, dass Riesling und Madeleine Royale die wahren Eltern des Müller-Thurgau sind. Hermann Müller ist enttäuscht, dass seine Schöpfung in Deutschland zunächst ignoriert wird. Als Müller die Schweizerische Versuchsanstalt für Obst-, Wein- und Gartenbau in Wädenswil als Direktor übernimmt nimmt er auch seinen Müller-Thurgau mit. Die neue Rebe wird nun versuchsweise angebaut unter anderem auf einer Parzelle am Schloss Arenenberg, am Schweizer Untersee gelegen. Dort verkostet Johann Baptist Röhrenbach den Wein und ist begeistert. Immer wieder fährt er mit seinem Sohn Albert auf einer Zündapp nach Arenenberg, er will sicher sein, dass er sich nicht von einer kurzen Euphorie leiten lässt. Als seine Vorgesetzten ihn zum wiederholten Mal abblitzen lassen, reift Röhrenbachs Entschluss: Er würde dieser Rebsorte zuliebe unter die Schmuggler gehen und den Müller-Thurgau heimlich anbauen.

 

400 Pfropfreben Schmugglerware

Über drei Stunden sind Albert Röhrenbach und Gottfried Ainser gerudert als sie den Konstanzer Trichter erreichen. Mit zitternden Knien gleiten die Ruderer an der Zollstation vorbei. Sie bleiben unbemerkt und erreichen Gottlieben, wo schon die Schweizer Flagge gehisst wird. «Das war eine der gefährlichsten Stellen», sagt Wilhelm Röhrenbach, «hier war das Risiko besonders gross, entdeckt zu werden.» Bei Ermatingen nehmen die beiden 400 Pfropfreben vom Müller-Thurgau in Empfang, die Schloss Arenenberg zur Verfügung gestellt hat. Gegenüber zeichnen sich schon die Umrisse der Insel Reichenau ab. Für die Reize dieser Morgenkulisse haben die Rebenschmuggler jedoch keinen Blick übrig, hastig rudern sie zurück. Schlag für Schlag gegen die starke Strömung im Seerhein, der Unter- und Übersee verbindet. Auch beim zweiten Mal passieren sie unentdeckt die Zollgrenze. Immer wieder begegnen sie auslaufenden Fischerbooten, Röhrenbach und Ainser grüssen routiniert. Die Reben sind unter den Netzen verborgen. Nach über acht Stunden Fahrt legen sie wieder in Hagnau an, schweissnass und erschöpft, aber auch glücklich, dass ihre Mission geglückt ist. Johann Baptist Röhrenbach kann es kaum erwarten, die Reben in den Weinbergen von Schloss Kirchberg anzupflanzen.

Als der Anbau entdeckt wird, kommt es jedoch zum Konflikt. Es wird ihm untersagt, die Sorte auf den markgräflichen Rebflächen am Bodensee anzubauen, sonst drohe ihm die Entlassung. Lediglich in Immenstaad darf Röhrenbach kleine Mengen Müller-Thurgau keltern. Dort wird der neue Wein in der Gaststätte von Schloss Kirchberg zu hausgemachtem Rahmkäse und Bauernbrot ausgeschenkt – und wird bald zum Gesprächsthema unter Weinkennern: Einen solch guten Wein habe man am See bislang noch nicht gefunden! Röhrenbach ist erbost, dass seine Vorgesetzten die Bedeutung der neuen Rebsorte für die Bodensee-Region weiterhin nicht erkennen. In einern Brief attackiert er sie direkt: «Ich habe schon gewusst, dass Herren dumm sein können, dass sie aber so dumm sein können, habe ich bisher nicht gewusst.» Der Brief wird auch Prinz Max von Baden vorgelegt, Röhrenbachs oberstem Chef, der souverän am Rand vermerkt: «Ein unabhängiger Abhängiger.»

Johann Baptist Röhrenbach gehört nicht zu denen, die sich durch eine Verfügung von oben von etwas abbringen lassen, was sie für richtig erkannt haben. Schon ein Jahr später, im Frühjahr 1926, wird die Schmuggeltour wiederholt. Heimlich verteilt Röhrenbach Reben an interessierte Winzer. Aber erst 1949, nach beinahe 30 Jahren im erzwungenen Schattendasein, wird der Müller-Thurgau auch auf anderen Rebflächen des Markgrafen von Baden angepflanzt. Johann Baptist Röhrenbach stirbt 1956, er erlebt noch, wie der Müller-Thurgau zum Motor des deutschen Weinbooms wird. Erspart bleibt ihm dagegen der Missbrauch der Rebe als Massenträger, der das schlechte Image prägt, das dem Müller-Thurgau noch heute anhaftet – oft zu Unrecht.

 

"Der" Wein vom See

Mit einer Baskenmütze auf dem Kopf steht Wilhelm Röhrenbach vor der Parzelle, auf der sein Grossvater die ersten Müller-Thurgau-Reben kultiviert hat. Auf der anderen Seite des Sees lässt der Säntis seinen Gipfel vom Schnee pudern. «Im Müller-Thurgau zeigt sich die Seele der Seelandschaft wie in keinem anderen Wein», sagt Wilhelm Röhrenbach. Dass der Bodensee heute Müller-Thurgau-Land ist, hat er seiner Familie zu verdanken. «Mein Grossvater hatte ein untrügliches Gefühl dafür, was hier am besten gedeiht.» Grosses Aufheben macht man nicht darum, wie der Müller-Thurgau an den Bodensee gekommen ist. Das hätte der Grossvater nicht gewollt. Für ihn war es eine Art Notwehr, ein Fall von zivilem Ungehorsam, notwendig, um den verzweifelten Winzern am See einen Ausweg aufzuzeigen. 

 

Quelle: Vinum, Europas Weinmagazin, Ausgabe Mai 2012, Text: Rainer Schäfer

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